Der folgende Text wurde von drei Autor*innen gemeinsam verfasst. Die erste Person skizzierte den Beginn einer krisenhaften Situation. Die zweite Person spitzte die Krise zu und die dritte beendete sie so, wie es ihr stimmig erschien.

Schmalzkrise

Last crisis I gave you my heart. Eine Krise? Dauerkrise! Immerwiederkrise. Nach der Krise ist vor der Krise. Bei mir ist ständig Kris-Mess. Gestern war‘s mal wieder so weit. Ich dachte: Jetzt ist es so weit. Jetzt brech‘ ich mal kurz zusammen, so an der dicken, fetten, lauten Kreuzung mitten in der Stadt. Weil ich schon seit gefühlt zwei Stunden mit dem Fahrrad im Novemberregen unterwegs war, um mir irgendwo von irgendjemandem ein Wattestäbchen in die Nase stecken zu lassen, obwohl ich mich seit Wochen auf genau diesen Vormittag gefreut hatte, einen Vormittag ohne Termine, an dem ich ganz in Ruhe, ja, noch nicht mal faulenzen, nein, einfach nur mal ganz in Ruhe ARBEITEN wollte.

Da verließ er mich, der Mut und da kam sie, die Traurigkeit. Konnte mir mal jemand verraten, warum ich mein ganzes Leben versuche, ein guter Mensch zu sein, secondhand kaufe, das Auto nie benutze, mein letztes Geld dem regionalen Biobauern gebe, mich an alle Scheißcoronaregeln halte, mich täglich selbst zu Hause teste, dem dadurch entstehenden Plastikmüllberg verzweifelt beim Wachsen zusehe, bisher niemanden angesteckt habe und – ja – mich jetzt auch von einer Impfung habe überzeugen lassen und mir jetzt noch nicht mal eine Tüte Schmalzkuchen zum Trost kaufen darf? Hätte ich gezwinkert, wären die Leute um mich herum in meinen Tränen ersoffen. Stattdessen habe ich sie runtergeschluckt. Statt Schmalzkuchen.

Die Bewerbung, an der ich arbeiten wollte, sollte mein Leben doch von Grund auf verändern! Dieser Job war die Antwort auf all meine Vorstellungen, eine Festanstellung in meiner Traumposition in meiner Traumfirma. Aber wie immer vermasselte ich mir alles, weil ich mal wieder meinem Helfersyndrom gefolgt war. Ja, das schaffe ich heute, klar kann ich das machen, gar kein Problem. Ich ahnte schon, dass es eng werden würde, sehr eng. Endlich die Teststation, lange Schlangen, eingemummelte Figuren im Nieselregen. Alle ohne Termin.

Dabei musste die Bewerbung doch sitzen. Ich hatte schon alles fertig im Kopf, nur noch tippen und bebildern, ein paar Artikel von mir einscannen. Fertig und ab damit bis 14 Uhr. Das war die Deadline. Was machte ich dann bitte hier?! Anstehen für einen Test, um dann als Ersatz den Weihnachtsengel in der Kindervorstellung zu geben. Warum konnte ich nicht einmal NEIN sagen, ohne mich schlecht zu fühlen, einfach nur Nein, ohne Begründung, ohne mich zu rechtfertigen.

Ohne Job würde es mager aussehen und ohne diesen Job trostlos. Ich kam keinen Schritt weiter, immer wieder dieser Kreislauf aus Chance – Freude – Chance vertan – Trauer – Hass auf mich selbst, Aufbauen lassen durch Freunde und rauf aufs Karussell und immer schneller. Ging das hier mal voran?? Voran, voran, nein, nein, ja, ja. Was sollte ich denn nur machen und vor allem: Was machte ich zuerst? Stopp, tief atmen, einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen. Wie kam ich aus diesem Gedankenkarussell wieder raus?!

Ein Kaffee! Ein Kaffee musste her. Ich fuhr mit meinem Fahrrad zu einem nahegelegenen Café und setzte mich an einen Tisch, beruhigte mich. Kam langsam runter. Allmählich drangen die Gespräche vom Nachbartisch zu mir durch. Die beiden Freundinnen dort unterhielten sich natürlich – worüber auch sonst? – über CORONA. Aber was war das? Was sagte die eine da? Völlig verrückte Worte und Sätze… Alle Regeln aufgehoben? Keine Reglementierungen mehr? Keine Tests? Keine Masken? Aber warum? Was war denn jetzt los? Der neue Gesundheitsminister fuhr eine ganz andere Linie und alle Inzidenzzahlen waren auf Null gefallen? Ganz bestimmt wurde ich verrückt.

Aber nein, ich lauschte weiter – es war wirklich wahr! Nun drangen Gesprächsfetzen auch von anderen Tischen zu mir herüber – alle sagten das gleiche, alle waren ungläubig, irritiert – genau wie ich. Der einzige Gedanke, der sich absurderweise in mein Hirn bohrte: Ob der Schmalzkuchenverkäufer wohl auch schon Bescheid weiß? Ich kramte etwas Kleingeld aus der Tasche, legte es für den Kaffee auf den Tisch und radelte voller Vorfreude, immer noch gemischt mit Ungläubigkeit und Skepsis, dem Schmalzkuchenverkaufsstand entgegen…

Ein riesiger Pulk fröhlicher Menschen! Sie konnten, genau wie ich, ihr Glück gar nicht fassen – Schmalzkuchen frei verfügbar, für alle zu haben! Juchee! Nie war Schmalzkuchen köstlicher als jetzt, in diesem Moment!